Gewaltfreie Selbstbehauptung


Boundaries are a prerequisite for compassion and empathy. We can’t connect with someone unless we’re clear about where we end and they begin. If there’s no autonomy between people, then there’s no compassion or empathy, just enmeshment.

Brené Brown

Keine echte Verbindung ohne stabile Grenzen. Zweifelsohne macht Gewaltfreie Kommunikation viele hilfreiche Angebote, mit anderen in Verbindung zu treten – dies ist jedoch nicht immer ratsam (und auch nicht immer möglich). Wenn unsere seelischen und körperlichen Grenzen dauerhaft überschritten werden, ist das empathische Streben nach Verbindung ein sicherer Weg in Selbstaufgabe und Depression.

Als ich im April 2024 einen Workshop vor 40 Personen zum Thema „Gewaltfreie Selbstbehauptung“ hielt, zeigte sich, wie sehr meine eigenen Hemmungen gegenüber klarer Grenzziehung auf Zustimmung stießen. Wir waren uns einig: Manchmal ist Abgrenzung schwer. Das kann verschiedene Gründe haben:

  • Wir neigen dazu, im Konfliktfall schnell mit der Aufmerksamkeit zur anderen Person zu wandern.
  • Wir befürchten, nach einer Grenzsetzung mit schlechtem Gewissen zurückzubleiben, den Kontakt zu einer Person zu riskieren oder ganz allgemein nicht mehr zugehörig zu sein.
  • Wir haben Angst davor, dass eine Grenze unsere Unversehrtheit eher gefährdet als schützt, da andere aggressives Verhalten als Reaktion zeigen könnten.
  • Wir sind es nicht gewohnt, Grenzen klar und deutlich zu kommunizieren. In entscheidenden Momenten fehlt es an Entschlossenheit.
  • Wir haben uns Glaubenssätze angeeignet, die Abgrenzung erschweren oder gar unmöglich machen. Beispiele: „Ich muss stark sein und viel aushalten.“, „Ich bin nur liebenswert, wenn ich empathisch bin.“, „Ich muss für Harmonie sorgen.“ oder „Ich darf nicht wütend sein.“
  • Wir haben, möglicherweise aufgrund all dieser Hindernisse, das Gespür für unsere seelischen und körperlichen Grenzen verloren und können nicht erkennen, wenn diese überschritten werden.

Wer hier beim Lesen Zustimmung bei sich erkennt, mag dem Glauben verfallen, dass eine Wahrung unserer Grenzen es verhindert, in Verbindung zu kommen bzw. zu bleiben. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind nicht trotz, sondern wegen klarer Grenzen in Verbindung.

Grenzen sind der Ort, an dem Menschen sich begegnen. Sie schaffen per se keine Distanz, sondern Klarheit und Struktur. Grenzen zu setzen und zu wahren ist ein liebevoller Akt uns selbst und anderen gegenüber. 

Welches Verhalten anderer unsere körperlichen und seelischen Grenzen überschreitet, liegt ebenso bei uns wie die Entscheidung, ob wir diese Überschreitung tolerieren oder nicht. Es gibt Grenzüberschreitungen, die Bedürfnisse unterstützen können – jede Paarbeziehung begann möglicherweise mit einer (einvernehmlichen!) Grenzüberschreitung in Form eines Gesprächs, Handhaltens oder Kusses – und es gibt Grenzüberschreitungen, die Bedürfnisse einschränken.

Dabei ist nicht alles, was uns nicht gefällt, automatisch eine Grenzüberschreitung. Zwischenmenschliche Dissonanzen lassen sich mit diversen Angeboten der Gewaltfreien Kommunikation auflösen (Empathie empfangen bzw. Selbstempathie praktizieren, empathisches Zuhören, verständnis- und bedürfnisorientierter Dialog, Mediation uvm.). Auch gibt es mit der Formulierung von Bitten und dem sog. Giraffenschrei Möglichkeiten, kraftvoll auszudrücken, wie man behandelt werden möchte.

Allerdings: Wir sind nur für unseren Teil der Interaktion verantwortlich. Es sind Situationen denkbar, in denen die genannten Strategien keine Option sind bzw. an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stoßen:

  • Selbstentmächtigung: Mehrfach gestellte Bitten wurden nicht erfüllt, Gesprächsangebote abgelehnt. Es stellt sich Frustration ein, möglicherweise auch Ohnmacht. Der Wunsch, dass andere sich ändern, intensiviert sich. Verbindung und Empathie werden nicht aus Liebe gesucht, sondern aus Angst.
  • Tagesform: Die körperlichen und seelischen Voraussetzungen, sich anderen zuzuwenden, sind nicht gegeben. Die Absicht zur Verbindung ist vorhanden, jedoch nicht die nötigen Kapazitäten. 
  • Grenzübertritt: Andere übertreten, beabsichtigt oder nicht, körperliche oder seelische Grenzen. 

In allen drei Fällen braucht es Strategien, die den Schutz von Unversehrtheit gewährleisten, ohne abhängig vom Verhalten der anderer Person zu sein. Bitten und die Option eines „Nein“ des Gegenübers sind keine Option. Es braucht die Mitteilung eines „Bis hierhin und nicht weiter“ und eine Konsequenz, falls das ungewünschte Verhalten anderer trotzdem aufrechterhalten wird.

Ein solcher Sprechakt ist im klassischen Repertoire der Gewaltfreien Kommunikation nicht enthalten. Und auch sonst ist mir aus der Literatur keine Leitlinie zur Gewaltfreien Selbstbehauptung bekannt. Einzig im Interview mit Gabriele Seils erläutert Marshall Rosenberg sein Verständnis von gewaltfreier Grenzsetzung und Selbstbehauptung. Nach seiner Einschätzung zum pädagogischen Allgemeinplatz „Kinder brauchen Grenzen“ befragt, antwortet er:

Ja, natürlich, es ist wichtig, gegenüber anderen Menschen Grenzen zu setzen […]. Wenn ich mich durch das Verhalten einer Person in meinen Bedürfnissen eingeschränkt fühle und nicht weiß, wie ich mit dieser Person kommunizieren kann, dann sage ich der Person, was ich tun werde, um für mich zu sorgen. Wenn mein Nachbar zum Beispiel etwas tut, was mein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung stört, dann sage ich ihm: „Wenn das so weitergeht, dann werde ich Folgendes tun.“ Manchmal setzen wir Menschen gegenüber Grenzen, um uns zu schützen oder um Bedürfnisse zu erfüllen, die für uns in dem jeweiligen Moment wichtiger sind.

Rosenberg, Marshall B. (2004): Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabriele Seils, Freiburg: Herder, S. 101.

In Ermangelung eines besseren Worts und im Bestreben, an die bestehende Bildsprache anzuknüpfen, schlage ich für diese Art des Selbstausdrucks „Giraffenknurren“ als Ausdruck vor. Die Bezeichnung rückt das verzerrte Bild der ewig sanften Giraffe zurecht (man schaue sich dazu einmal Aufnahmen von Rangkämpfen zwischen Giraffenbullen an) und ergänzt das Repertoire um den Schritt zur Selbstbehauptung, den Rosenberg im Interview andeutet. Die Kriterien:

  • Ich benenne, welches Verhalten mich einschränkt. („Wenn das so weitergeht, …“)
  • Ich drücke aus, was ich unternehmen werde, um für mich zu sorgen. („… werde ich folgendes tun.“)
  • Ich handle eigenmächtig, anstatt andere zu einem bestimmten Verhalten zu drängen. Meine Bedürfnisserfüllung geschieht unabhängig von der anderen Person.

Solche Botschaften bedürfen Kraft, Klarheit und der Entschlossenheit, uns für unsere Anliegen stark zu machen. Das Gefühl, das uns dazu antreibt, hat einen ausgesprochen schlechten Ruf: Wut.

Wut und Ärger werden im englischsprachigen Kontext der Gewaltfreien Kommunikation häufig synonym als anger gebraucht. Der anger ist dort klassischerweise ein Sekundärgefühl. Die Aufmerksamkeit liegt bei diesen Gefühlen nicht auf unerfüllten Bedürfnissen, sondern auf strafenden Urteilen über andere Personen (anger) oder uns selbst (guilt, shame, depression). Die Kunst besteht darin, diese Sekundärgefühle zu transformieren, also die Bedürfnisse hinter diesen Urteilen aufzuspüren. Fernab von mir bekannter Literatur existieren nur wenig Wissensbestände über sogenannten pure anger, also eine Ausprägung dieses Gefühls, bei dem die Aufmerksamkeit auf (un)erfüllten Bedürfnissen liegt.

Über anger als sogenanntes Primärgefühl ist wenig bekannt. Es spricht vieles dafür, für anger als Primär- und Sekundärgefühl jeweils eine eigene Bezeichnung zu verwenden. Mit Wut als Primärgefühl und Ärger als Sekundärgefühl ergibt sich folgende Unterscheidung:

  • Ärger: Fokus auf anderen Personen und meinen Gedanken über sie, feindbildbasierter Strafimpuls, grenzüberschreitend.
  • Wut: Fokus auf mir und meinem Bedürfnis, Schutz von Unversehrtheit, grenzwahrend. 

Zum Thema Wut ließe sich freilich ein eigener Artikel schreiben. Meine Vermutung: Was das Setzen von Grenzen erschwert (s. o.), erschwert auch, sich Wut als Gefühl zu erlauben.

Mit diesen Konzepten im Gepäck seien nun die eingangs benannten Hindernisse zur Grenzsetzung in der Hoffnung kommentiert, für mehr Grenze werben zu können:

  • Wir neigen dazu, im Konfliktfall schnell mit der Aufmerksamkeit zur anderen Person zu wandern.
    • Eine Definition von Gewalt könnte sein, dass andere ihre Bedürfnisse ohne Rücksichtnahme auf unsere Bedürfnisse erfüllen. Wer unter Leidensdruck die eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer übergeht, handelt gewaltvoll gegen sich selbst. Das ist auf Dauer lebensgefährlich.
  • Wir befürchten, nach einer Grenzsetzung mit schlechtem Gewissen zurückzubleiben, den Kontakt zu einer Person zu riskieren oder ganz allgemein nicht mehr zugehörig zu sein.
    • Andere haben das Recht, unsere Grenze nicht zu mögen. Wer auf Grenzen stößt, kann frustriert, verärgert oder auch traurig sein. Damit umzugehen, liegt in der Verantwortung des Anderen.
    • Wenn sich andere von mir abwenden, nachdem ich eine Grenze geäußert habe, möchte ich wahrscheinlich auch nicht mehr in diesem Kontakt sein.
  • Wir haben Angst davor, dass eine Grenze unsere Unversehrtheit eher gefährdet als schützt, da andere aggressives Verhalten als Reaktion zeigen könnten.
    • Extremsituationen außen vor gelassen, kann die Reaktion auf eine Grenze es nötig machen, eine neue Grenze zu setzen. Und vielleicht sorgt das als aggressiv gelesene Verhalten ja für die nötige Extraportion Wut.
  • Wir sind es nicht gewohnt, Grenzen klar und deutlich zu kommunizieren. In entscheidenden Momenten fehlt es an Entschlossenheit.
    • Grenzen können auch mit zeitlichem Abstand nach deren Übertritt markiert werden. Wenn im entscheidenden Moment die nötigen Ressourcen zur Selbstbehauptung nicht zur Verfügung stehen, geht dies auch zu einem späteren Zeitpunkt.
  • Wir haben uns Glaubenssätze angeeignet, die Abgrenzung erschweren oder gar unmöglich machen. Beispiele: „Ich muss stark sein und viel aushalten.“, „Ich bin nur liebenswert, wenn ich empathisch bin.“, „Ich muss für Harmonie sorgen.“ oder „Ich darf nicht wütend sein.“
    • Glaubenssätze lassen sich nicht von heute auf morgen transformieren. Ich rate zum einen, den eigenen Glaubenssätzen auf die Spur zu gehen und zum anderen, bei neu entstehenden Glaubenssätzen wachsam zu sein. Das Erlernen der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation kann auch zu Glaubenssätzen verleiten wie „Ich darf nicht urteilen.“, „Ich muss immer nett und freundlich sein.“, „Ich muss immer die Bedürfnisse anderer berücksichtigen.“, „Ich muss immer empathisch sein.“ usw.
  • Wir haben, möglicherweise aufgrund all dieser Hindernisse, das Gespür für unsere seelischen und körperlichen Grenzen verloren und können nicht erkennen, wenn diese überschritten werden.
    • Meine Ideen dazu übersteigen meinen psychologischen Kompetenzbereich. Meine Vermutung: Irgendein Signal beim ungewollten Grenzübertritt wird es geben, sei es Verwirrung, Ohnmacht, oder Angst. 
    • Der Gedanke, dass ich meine Grenzen nicht kenne, kann auch eine Vermeidungsstrategie sein, wenn Grenzsetzungen als unangenehm empfunden werden. Vielleicht ist also gerade dieser Gedanke ein Zeichen, dass eine Grenze gefährdet ist.

Fazit: Abgrenzung ist genauso wichtig wie Verbindung. Gewaltfreie Kommunikation ist insgesamt überwiegend Wegen gewidmet, in Verbindung zu kommen. Für Gewaltfreie Selbstbehauptung fehlt es bisher an äquivalenten Sprechakten, Schlüsselunterscheidungen und Grundannahmen. Ich schlage folgende vor:

  • Sprechakt: Giraffenknurren. „Wenn das so weitergeht, werde ich folgendes tun.“
  • Grundannahmen:
    • Menschen möchten nur unter Zustimmung die körperlichen und seelischen Bereiche anderer betreten. (Ergänzung: Ich wünsche mir eine Welt, in der das so ist. Gleichwohl erkenne ich an: Die Wahrung fremder Grenzen muss erlernt werden. Umso wichtiger also, wenn man eigene Grenzen klar kommuniziert.)
    • Menschen können (uns müssen!) nicht jedes Verhalten anderer ertragen. (NB: Auch nicht nach jahrelanger Übung in Gewaltfreier Kommunikation.)
  • Schlüsselunterscheidungen:
    • Ärger & Wut
      • Ärger: Fokus auf anderen Personen und meinen Gedanken über sie, feindbildbasierter Strafimpuls, grenzüberschreitend.
      • Wut: Fokus auf mir und meinem Bedürfnis, Schutz von Unversehrtheit, grenzwahrend. 
    • Gewaltvolle & Gewaltfreie Abgrenzung
      • Gewaltvoll: Drohung, Schaden zufügen, strafende Macht, selbstentmächtigend.
      • Gewaltfrei: Selbstmitteilung, Schaden abwenden, schützende Macht, selbstermächtigend.

Ich würde gern ein Buch aus den Reihen der Gewaltfreien Kommunikation empfehlen, das Möglichkeiten aufzeigt, Gewaltfreie Selbstbehauptung zu üben. Jedoch: Es gibt keines. Vielleicht muss ich es selbst schreiben. Was ich wärmstens empfehlen kann, ist die Teilnahme an einem Seminar, das Gerlinde R. Fritsch in Hamburg zum Thema „Von wütender Ohnmacht und ohnmächtiger Wut zur Selbstermächtigung“ anbietet (Ausschreibung hier). Ihr danke ich von Herzen, mich auf dieses Thema aufmerksam gemacht zu haben.


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